Beitrag von der Künstlerin Anja Schoeller, die im Rahmen von kunst&gesund bei der Auftaktveranstaltung "Künstlerisch-partizipative Stadtlandschaften Ingolstadt" vom Kunstverein Ingolstadt mitgewirkt hat.

 

Anja Schoeller, 2016, Ingolstadt ein Organismus/Torso

 

Kunst = Heilung

Als einen Raum mit Ein- und Ausatmungsorganen, mit einem pochenden Zentrum, fließender Energie in den Adern und denkenden Strukturen – so begreife ich die Stadt. Für mich ist sie lebendig und stets in Veränderung: zweifellos ein soziales Lebewesen mit vielen darin lebenden Individuen.

Mit dieser doppelten Lebendigkeit der Stadt (als Subjekt einerseits und Wohnort vieler Menschen andererseits) gewinnt der Kunstbegriff Joseph Beuys´ nochmals an Bedeutung: „Ein Verständnis von Kunst, demzufolge jeder Mensch fähig und berufen ist, schöpferisch den Wandel hin zu überhaupt erst menschenwürdigen Verhältnissen mitzugestalten – ob in der Wirtschaft, der Bildung, in der Politik und/oder im Zusammenleben, genauso in der Selbstheilung und in der Medizin“.

Diesen erweiterten Kunstbegriff, typisch für die 1970er Jahre, teilt auch die Zukunftsforscherin Dr. Hildegard Kurt (www.und-institut.de für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit). Sie spricht von der „Muse der Zukunftsfähigkeit“ und greift dabei auf das von Beuys (1982) verfasste Manifest der „neuen Muse“ zurück:

„Der Begriff der Sozialen Plastik ist eine völlig neue Kategorie der Kunst. Eine neue Muse tritt den alten gegenüber auf! Diese Muse war vorher gar nicht bekannt, und weil sie nicht bekannt war, ist es zu den bekannten Denkirrtümern gekommen, d. h. jetzt ist die Lage so kritisch geworden, dass sich wirklich einige Geister auf den Weg gemacht haben, diese Muse zu entdecken. Sie trägt den zukünftigen Begriff von Plastik, der vor jedem anderen Begriff von Plastik Vorrang hat. Ich schreie sogar: Es wird keine brauchbare Plastik mehr hienieden geben, wenn dieser Soziale Organismus als Lebewesen nicht da ist. Das ist die Idee des Gesamtkunstwerkes, in dem jeder Mensch ein Künstler ist.“

Die lebendige Stadt als Gesamtkunstwerk – auf sie wird in meinem Projekt der ganze Fokus gelegt. Mit einer ganzheitlichen Sicht auf den urbanen Körper mache ich ein Angebot zum Erfassen der Grundstruktur im Sinne der „neuen Muse“: beobachten, horchen, das Ausscheidende, das Toxische erspüren, genauso auch das Duftende...

Ich lasse mich auf eine Stadtlandschaft ein, filtriere, diffundiere von außen nach innen, von innen nach außen und beobachte all das Lebendige in diesem urbanen Gefüge, um mich mit dem zu verbinden, was die Welt lebendig hält – sei es süß, sei es sanft, sei es stechend.

Die Brennnessel stellt in dieser Hinsicht eine besonders (und im besten Sinne) reizvolle Begegnung dar. Denn was die Brennnessel (Urtica dioica) meisterlich beherrscht, ist die Aufmerksamkeit ins Jetzt und Hier zu lenken. Sobald Stängel oder Blatt unsere Haut berühren, sind wir uns aufgrund der brennenden Nachwirkung des DA-seins bewusst, im Vergleich gesehen ist das Reizen der Akupunkturpunkte die Botschaft, die über das menschliche Zwischenhirn an die angesprochenen Körperteile gelangt. Steht sie auch bei vielen von uns für ein Unkraut, ist sie doch in Wirklichkeit mehr als ein germanisches Ur-Heilkraut und die Pionierin der Heilkräuter (Wolf Dieter Storl).

Nicht zuletzt taugt sie auch als einfach zu beschaffender und wirksamer Dünger. Wüssten die Städte mit ihren Grünabfällen umzugehen, könnten sie sich die Tonnen an toxischem Dünger sparen, um z. B. mit der „Brennnesseljauche“ gewünschte Blüh- und Wachserfolge zu erzielen. Günstiger kann ein Dünger nicht sein – Stickstofflieferant sowie Stickstoffanzeiger –, in einer Auto-Stadt wie Ingolstadt ein inspirierender Heilungsgedanke.

Anja Schoeller, 2017, Assoziationswolke für kommunikative Verdichtungen und Veränderungsprozesse
* Wörterbuch der Menschen, Begriffe für das gute Leben. Zeitschrift Oya Okt. 2016
** Denk mit der Hand, Handbuch von Christiane ten Hoevel

 

So entstand die Idee für das erste ökologische Heilungsprojekt, das im August 2017 unter dem Titel: „BrennPunkte für Akupunkteure und Actor – eine Analogie“ stattfand.

Zwei Tage widmeten wir uns dieser Zauberpflanze und luden interessierte Ingolstädter*innen zu einer Brennpunkt-Werkstatt ein. Insgesamt 5 kg Brennnesselsamen stellten wir für eine „Stadt-Diagnose“ zur kreativen Verfügung. Ziel war es unter anderem, eine individuelle Beziehung zur Brennnessel in der unmittelbaren Umgebung des Kunstvereins, z. B. an den Donauauen und Straßenrandstreifen, herzustellen. Es wurden Geschichten und Gedanken über die Kindheit, das Jetzt und für die Zukunft ausgetauscht und geteilt. Für die berührenden Brennnesselbegegnungen stellten wir Fotos mit Teilnehmer*innen und Brennnessel-Blatt her. (tonwert.jalbum.net/Brennpunkt/)

Über die Brennnessel verbanden wir uns mit der Stadtgeschichte und ließen uns von der Pflanze führen – hin zu der 1000-jährigen sozialen Stadtskulptur, geprägt von Geschichte und Zukunft, Leid und Freud vieler Menschen und Generationen gemeinsam; hin zu der Stadt, in der geplant und auch wieder zerstört wurde, in der sich der Geist der Vergangenheit in seinen Visionen und Wünschen, Krieg und Frieden zeigt; hin zu der Stadt, der wir ein pochendes Herzzentrum und schöpfende und gewinnbringende Cluster wünschen.

Stadt ist immer Vergangenheit und Zukunft, nicht anders als bei einem menschlichen Körper. Daran anknüpfend ließen sich Heilungsangebote entwickeln – von Gemeinschaften, Institutionen und Organisationen, um in öffentlichen Räumen, an unbekannten Orten und/ oder an Brennpunkten wirksam zu werden. Hiermit appelliere ich an die schöpferische Kraft der Ingolstädter*innen, um zukünftig im Auftrag der Natur und menschlichen Kultur das notwendige Bewusstsein zu wecken, Kommunikation anzuregen und Dialoge herzustellen.

 

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